Foto Edgar Einemann Prof. Dr. Edgar Einemann

Technikfolgenabschätzung (TFA) 

Die hier vorgestellten Überlegungen basieren auf Konzepten, die vor 30 Jahren entwickelt worden sind. Sie sind nicht grundlegend optimiert worden und auch nicht veraltet - wohl aber teilweise in Vergessenheit geraten. Vor allem der Aspekt der Gestaltung von Technologie-Anwendungen hätte, insbesondere im Zusammenhang mit Informationstechnik und Internet, eine größere Beachtung verdient. 2015 habe ich eine kurze Präsentation erstellt.

Populär geworden ist der Begriff im Zusammenhang mit der Diskussion über die Nutzung der Kernenergie. Der Grundgedanke ist, dass man neue (technische) Möglichkeiten nicht nur unter dem Aspekt ihrer kurzfristigen Vorteile betrachten darf, sondern auch die (teilweise erst sehr langfristig bemerkbaren) Folgen in die Bewertung einbeziehen und Gestaltungsoptionen diskutieren muss.
Jede Bewertung basiert auf Kriterien und Vorstellungen davon, was gut und was schlecht ist. So ist es kein Wunder, dass es im Rahmen der Bestimmung von Zielen und Ansätzen der TFA (1) eine Diskussion über die ethischen Grundlagen der TFA (2) gegeben hat. Ein differenziertes Technikverständnis (3) lieferte den Rahmen für Analysen in vielen Bereichen (4). Für konkrete Folge-Abschätzungen wurden dann unterschiedliche Modellen und Checklisten (z. B. Einemann & Kollatz 1988, S. 33-35) entwickelt.
Eine dauerhafte, robust ausgestattete und  gesellschaftlich relevante Institutionalisierung der Technikfolgenabschätzung hat es auf der Welt kaum gegeben.

1. Ziele und Ansätze der TFA

Nach Paschen (1986) zielt die TFA darauf ab, (1) die Bedingungen und Auswirkungen der Einführung und Verwendung von Technologien zu erforschen und zu bewerten, (2) mögliche gesellschaftliche Konfliktfelder zu identifizieren und zu analysieren und (3) „Handlungsmöglichkeiten zur Verbesserung der betrachteten Technologie bzw. ihrer Anwendungsmodalitäten aufzuzeigen und zu überprüfen“ (S. 23). Hinzuzufügen wäre: oder in Einzelfällen auch zu empfehlen, auf die Nutzung der Technologie zu verzichten (S. 33).
Auf Grundlage dieser Zielbestimmung formuliert Paschen (1986) ein detailliertes „Idealkonzept“ (S. 29-34) für die TFA. Der Ansatz beinhaltet vier zentrale Elemente: (1) Es muss auch um potentielle Folgewirkungen gehen, damit die TFA als Frühwarnsystem fungieren kann. (2) Das Spektrum möglicher Wirkungen soll umfassend untersucht werden; einbezogen werden müssen z. B. unbeabsichtigte Nebenwirkungen, indirekte und mit Verzögerung eintretende Wirkungen, kumulative und synergistische Elemente, institutionelle und soziale Folgen, Rückwirkungen gesellschaftlicher Entwicklungen auf die Technologie sowie Systemalternativen und konkurrierende Technologien. (3) Die Analysen sollen entscheidungsorientiert sein – mit der Konsequenz, dass auch alternative Maßnahmen und Handlungsoptionen aufgezeigt werden sollen. (4) Die TFA soll partizipatorisch sein und eine breite Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen sicherstellen, um das vorhandene Wissen zu aktivieren und Manipulationsgefahren zu reduzieren. (Hier gab es 1986 gleich einen Konflikt mit den Unternehmervertretern des BDI, die damals die Gefahr einer gesamtgesellschaftlichen Mitbestimmung ausgemacht hatten, vgl. Naschold 1987, S. 15).  
„Es geht um die Gestaltung technologischer Prozesse, bei der die ökologische, soziale, internationale und generative Verträglichkeit, kurz Lebensverträglichkeit von Technik, zu gewährleisten ist.“ (von Westfalen 1988, S. 46).    

2. Ethische Grundlagen der TFA

Mit diesem Thema hat sich u. a. ein  von Raban Graf von Westphalen (1988) herausgegebenes Buch zur Technikfolgenabschätzung befasst. „Ethik in der technischen Zivilisation muß radikal in dem Sinne sein, daß sie Grundbedingungen technischer Vernunft sozial und ökologisch hinterfragt.“ (von Westfalen 1988, S. 43). Denn: „Technik ist nicht wertfrei. Technisches Handeln muss ständig zwischen Mitteln und Zielen wählen und benötigt für diese fortgesetzten Auswahlprozesse Kriterien, die nur unter Bezug auf Werte gewonnen werden können.“ (von Westfalen 1988, S. 55).
Als zentrale Werte, die weit ausdifferenziert vorgestellt und deren Relevanz und Relation zueinander intensiv diskutiert werden, gelten: Funktionsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit (einzelwirtschaftlich), Wohlstand (gesamtwirtschaftlich), Sicherheit, Gesundheit, Umweltqualität, Persönlichkeitsentfaltung und Gesellschaftsqualität (S. 73).       

3. Technikverständnis

Rolf Meyer und Dieter Striebel (1988) haben einen Bericht über die Arbeit der 1985 vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission „Technologiefolgen-Abschätzung“ vorgelegt und in diesem Rahmen das differenzierte Technik-Verständnis der Kommission näher erläutert. Damit wird begründet, dass die Technik-Entwicklung in die gesellschaftliche und politische Diskussion gehört und eine Tabuisierung der Diskussion unter dem Vorwand der Neutralität der Technik ebenso unangemessen ist wie eine Reduzierung des Problems auf die Aufzählung von Vor- und Nachteilen oder die Beschreibung von Risiken und Chancen.   
Meyer und Striebel (S. 19/20) betonen die in dem Bericht der Kommission erläuterten „Merkmale für eine neue Qualität von Technik“ und ihre Wirkungsdimensionen: (1) Technologien haben einen breiten Wirkungsraum. Folgen können in unterschiedlichen Bereichen und auch weit entfernt von der Wirkungsquelle auftreten. (2) Technologien haben einen langfristigen Wirkungsraum. Hohe Kosten legen bestimmte Entwicklungspfade für längere Zeiträume fest, und Wirkungen können sich schleichend entwickeln und erst nach langen Zeiträumen sichtbar werden. (3) Fehlende Rückholbarkeit: Folgen können nicht mehr revidierbar sein (Freisetzung von Schwermetallen oder genmanipulierten Organismen) oder eine kaum absehbare Zeitdimension haben (wie Atommüll, der noch Jahrtausende vorhanden sein wird). (4) Abnehmende Fehlerfreundlichkeit: Infolge steigender Gefahrenpotentiale wachsen die Anforderungen an die Funktionsfähigkeit und die Sicherheitssysteme – Fehler dürfen nicht passieren. (5) Reduzierte Wahrnehmbarkeit von Technik-Folgen: Wirkungen und Folgen sind mit menschlichen Sinnen nicht mehr direkt wahrnehmbar (radioaktive Strahlung, chemische Verbindungen) und bedürfen wissenschaftlicher Analyse. (6) Zunehmend unsicheres Wissen über Technik-Folgen mit der Folge des zweifelhaften Arbeitens mit statistischen Wahrscheinlichkeiten z. B. bei der Bestimmung von Restrisiken (danach hätte es eine Kernschmelze in Atomkraftwerken so schnell nicht geben können).  

4. Felder für die Durchführung der TFA

Zu Beginn der achtziger Jahre wurden in Deutschland aus dem damaligen Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) Aktivitäten in den Bereichen „Früherkennung, Wirkungs- und Vorsorgeforschung, spezifische TA-Analysen, Infrastruktur und internationale Zusammenarbeit“ (von Westphalen 1988, S. 371) gemeldet (zur langen, auch internationalen Geschichte der TFA vgl. z. B. Naschold 1987).
Wirkungs- und Vorsorgeforschung war gefragt im Rahmen von Programmen wie „ökologische Wirkungsforschung, Klimaforschung, Sicherheitsforschung, Gesundheitsforschung, Humanisierung des Arbeitslebens“ (von Westphalen 1988, S. 371). Technikfolgen-Abschätzung war 1982 auch gefragt im Rahmen von Technik-Förderprogrammen zu „Fertigungstechnik, Fachinformation, Biotechnologie, Informationstechnik, Grundlagenforschung zur Informations- und Kommunikationstechnik, Lasertechnik“ (S. 376).
Wir haben in unserem Buch über „Technologieentwicklung und Reformpolitik“ (Einemann & Kollatz 1988) das vor 25 Jahren maximal aktivierbare Maß an Technologiekritik zusammengetragen (und dabei einige Positionen vorgetragen, die wir heute anders formulieren würden). Unter anderem hatten wir die Rüstungsproduktion, die Bio- und Gentechnologie, die neuen Kommunikationstechnologien und den Bereich „Arbeit und Technik“,  die Verdatung der Bürger und die ökologische Gestaltung u. a. von Energieversorgung, Abfallwirtschaft und dem Verkehrswesen im Visier. Heute würde man zusätzlich z. B. über die Nanotechnologie, Fracking, Mobilkommunikation, Internet oder RFID sprechen.

5. Beispiele für den Sinn einer TFA

Das Paradebeispiel für die Notwendigkeit und den Sinn einer TFA ist die Atomenergie. Die frühen Warnungen einer kleinen Minderheit basierten auf Wertvorstellungen wie optimale Gesundheit und Umweltschutz/Nachhaltigkeit und hielten den Einstieg in die Technologie auch unter Aspekten wie (Nicht-)Sicherheit und (Nicht-)Rückholbarkeit für unverantwortbar.

Ein Beispiel aus der Arbeiterbildung hat mich stark beeindruckt: wir haben in einem Seminar zur "Humanisierung der Arbeit" über die Gesundheits-Gefahren der Arbeit mit Asbest aufgeklärt und auf die wahrscheinlich lange Zeit (über 10 Jahre) bis zum Auftreten einer Wirkung (Asbestose mit möglicher Todesfolge) hingewiesen. In einem Folgeseminar wurde uns aus der betrieblichen Diskussion berichtet, ein Vorarbeiter habe eine Asbestplatte zerbrochen, den Staub etwas aufgewirbelt, kräftig inhalliert und auf sein gutes Befinden hingewiesen. Motto: stellt euch nicht so an, das ist doch alles ungefährlich, mir ist ja auch nichts passiert. Heute ist Asbestose als Berufskrankheit anerkannt, aber viele Betroffene müssenum die Anerkennung ihrer Erkrankung als arbeitsbedingt kämpfen - besser wäre, die Erkrankung hätte vermieden werden können.

     
Quellenangaben

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