Foto Edgar Einemann Prof. Dr. Edgar Einemann

Internet, Super-Big-Brother 

George Orwell hat 1948 seinen berühmten Roman „1984“ verfasst (veröffentlicht wurde das Werk 1949), in dem er das Bild einer total überwachten Gesellschaft zeichnet: Big Brother is watching you. Das Werk wurde kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs mit dem Erfahrungshintergrund der faschistischen Diktaturen in Deutschland und Spanien und unter dem Eindruck des autoritären Stalinismus geschrieben. Zu Orwell und dessen auch verfilmten Buch "1984" gibt es eine Vielzahl von Besprechungen. Nach den Enthüllungen über die Aktivitäten vor allem der amerikanischen und britischen Geheimdienste zur Internet-Überwachung ist das Werk im Jahr 2013 zu einem Bestseller geworden.

Der Roman zeichnet das Bild einer Überwachungs-Gesellschaft, die von einer Partei beherrscht wird, in der wiederum die "Innere Partei" aus ca. 2% der Bevölkerung die entscheidende Rolle spielt. An der Spitze der Pyramide steht "Big Brother". Wohnungen, Arbeitsstätten und öffentliche Plätze werden mit Hilfe von Teleschirmen überwacht, die als Sende- und Empfangsgeräte mit Kameras und Mikrophonen ausgestattet sind; ländliche Gebiete werden mit versteckten Mikrophonen überwacht. Ein Hauptfaktor ist die Gedankenpolizei, die auch die Bespitzelung der Bürger untereinander organisiert. Die breite Masse der Bevölkerung (ca. 85%), die Arbeiterklasse (Proles), wird aufgrund ihrer als gering eingeschätzten Relevanz nur vereinzelt überwacht.

Vor 65 Jahren hatte Orwell natürlich keine Ahnung von den  Möglichkeiten, die die Überwachung einer globalen Telekommunikations-Infrastruktur mit Milliarden von vernetzten Personen, Millionen von vernetzten Unternehmen und Hunderten von vernetzten Staaten bietet. Heute liefern die Menschen nahezu alle relevanten und irrelevanten Daten von sich und anderen mehr oder weniger freiwillig und in der Regel unbewusst bei großen Datensammlern ab, die häufig von den USA aus operieren. Ein Super-Big-Brother braucht „nur“ diese häufig schon personenbezogenen Daten von wenigen Knotenpunkten aus abzugreifen und hat schnell eine Datenlage, von der die „alten“ Geheimdienste nur träumen konnten.
Die detaillierte Erläuterung dieser These kann Bücher füllen und den Stoff für viele Filme liefern (das machen sicher andere). Aber ein kleiner Eindruck soll vermittelt werden:

  1. Apple bietet dem Bürger die Sicherung der Smartphones mit dem Fingerabdruck. Apple verspricht, diese Fingerabdrücke würden nur in dem Telefon gespeichert und nicht in einer zentralen Datei – wirklich, wie lange, wer entscheidet?
  2. Google bringt eine Datenbrille mit einer Kamera auf den Markt, die das Umfeld des Brillenträgers erfasst und Bilder an irgendwelche Computer sendet. In Las Vegas wurde das Tragen im Casino schon mal verboten. Google verspricht, dass die Funktion der Gesichtserkennung abgeschaltet ist und der mögliche Abgleich von Personen mit den in Googles Suchmaschine hinterlegten Fotos von Personen nicht stattfindet – wirklich, wie lange noch, wer entscheidet? Google hat sich mit seinen Diensten den Ruf der "Datenkrake" redlich erworben und wurde 2013 Preisträger bei den Big Brother Awards..
  3. Microsoft rüstet seine neue (mit dem Internet verbundene) Spiele-Konsole Xbox mit einer Kamera aus, die die Aktivitäten der Nutzer erfasst und auch live irgendwohin überträgt. Es kann auch gleich eine Gesichtserkennung erfolgen.  Das wird in der Regel weder gespeichert noch öffentlich präsentiert - wirklich, wie lange, wer entscheidet?
  4. Amazon stellt den Kunden die Einkaufslisten der letzten Jahre online zur Verfügung. Alles ist gespeichert.
  5. Über Facebook können Listen mit Profildaten der Nutzer produziert und bereitgestellt werden, und Facebook kennt alle persönlichen Kommunikations-Netzwerke. Der zugekaufte Messenger-Dienst "WhatsApp" benötigt für seinen Service alle im Handy gespeicherten Adressen der Kommunikationspartner und wurde für seine Sicherheits- und Überwachungsprobleme kritisiert.
  6. Verizon, Vodafone und die großen Telekommunikations-Dienstleister (Internet-Provider und Telefon-Dienstleister) speichern die Kommunikationsdaten ihrer Kunden schon zu Abrechnungszwecken personenbezogen. Technisch ist es den Unternehmen möglich, nicht nur z. B. Handy-Standorte zu ermitteln, sondern auch Inhalte von Mails und Telefonaten zu erfassen.
  7. CISCO produziert den größten Teil der Basis-Technologie des Internets. Da diese nur per Fernsteuerung zu managen ist, gibt es Zugriffsmöglichkeiten auf den Internet-Verkehr. Dokumentiert sind z. B. das Eindringen in Netzwerke über Administratoren und den chinesischen Netzwerk-Ausrüster Huawei durch die NSA. Zur Not kann das US-U-Boot „Jimmy Carter“ angeblich die Untersee-Kabel anzapfen.
  8. Cloud Computing bedeutet, dass Menschen und Unternehmen ihre Daten in externen Rechenzentren (häufig kostenlos) ablegen können. Das bieten Apple, Google, Microsoft, Amazon, Vodafon und viele andere. Die Daten sind sicher und verschlüsselt – aber Mitarbeiter der Unternehmen haben den Schlüssel zur Entschlüsselung.
  9. Handys sind schon heute mobile Teleschirme, deren Position geortet (und deren Bewegung gespeichert) werden kann; die Kameras und Mikrophone (auch von Laptops) können theoretisch ohne Wissen des Nutzers als Abhörinstrumente genutzt werden.
  10. Router auch in privaten Haushalten werden zu kriminellen Zwecken geknackt oder können (genau wie Handys) nach Einschätzung des Buches der Technologie-Experten Eric Schmidt und Jared Cohen von Google (S. 92) gleich mit Spionage-Software bestückt zur Auslieferung kommen.
  11. Viele APPS sind unsicher bzw. basieren gerade auf der Zustimmung des Nutzers zur Erfassung und Speicherung seiner Daten.
  12. Mit Big Data wird ein Ansatz beschrieben, der mit Hilfe der Verknüpfung vieler Einzeldaten aus Datenmassen nicht nur Aussagen z. B. über die Kreditwürdigkeit konkreter Personen zulässt, sondern auch Prognosen über das zukünftige (Kauf-) Verhalten von Menschen berechnen will. Die von Facebook gespeicherten Kommunikationsprofile sind z. B. eine wahre Fundgrube.
  13. Fernseher werden irgendwann nicht nur mit dem Internet verbunden, sondern auch mit Kameras und Mikrophonen zur Erfassung der Reaktionen der Zuschauer ausgestattet sein - sicher nur, damit der Service verbessert werden kann.

Der Staat, Versicherungen, Banken, Krankenkassen und eine Vielzahl von weiteren großen Sammelstellen (z. B. Firmen mit Spezialgebieten wie Direktmailing, Adresshandel oder Kreditauskunft) verfügen über Unmengen von (personenbezogene) Bürger-Daten. Unternehmen verfügen über sehr viele Arbeitnehmer-Daten und überwachen ihre Beschäftigten nicht immer legal. Die USA koppeln die Einreise gleich an eine erkennungsdienstliche Bearbeitung mit Fingerabdruck und Foto, sie erwarten die Lieferung von Fluggastdaten und wollen den internationalen Zahlungsverkehr (SWIFT-Abkommen) überwachen.

Zusätzlich eingesetzt werden Überwachungstechnologien, die häufig einen Doppelcharakter haben: Sie dienen der Unterstützung und dem Schutz des Bürgers – und zugleich seiner Kontrolle (man denke nur an Kundenkarten und Kreditkarten, Videoüberwachung, Cookies, GPS-Ortung, RFID-Chips in Produkten wie Ausweisen etc.). Insofern ist die breite Masse nicht nur Opfer, sondern häufig auch Mittäter. Der Tausch „Vorteil für Dich gegen Deine Daten“ wird meist akzeptiert.

Super-Big-Brother entsteht dann, wenn die an vielen Stellen gesammelten Daten möglichst personenbezogen zusammengeführt werden. Wenn man – wie die NSA – die relevanten Internet- und Telekommunikationsunternehmen dazu bewegen kann, einen Zugriff auf die gesammelten Daten zu erlauben (oder sie sonstwie beschafft) und diese mit anderen Daten (von Staat und Unternehmen) verknüpft, dann gibt es eine neue Qualität von Überwachung.  SPIEGEL ONLINE wählte die Überschrift: „Google, Facebook, Microsoft machen den Job der NSA“. Dass fremde Regierungen und Botschaften ausgespäht und verschlüsselte Dokumente und Nachrichten entschlüsselt werden – das war schon immer das Geschäft von (allen) Geheimdiensten und dürfte niemanden überraschen, auch wenn es unter „Freunden“ wenn nicht unüblich, dann zumindest unbekannt ist. Aber die mögliche Totalüberwachung mehr oder weniger aller Welt-Bürger ohne Diktatur und eine Unmenge von Spitzeln und die unvorstellbaren Auswertungsmöglichkeiten dank einer Software wie XKeyscore (SPIEGEL ONLINE: „Die Infrastruktur der totalen Überwachung“)  haben eine Dimension, die Orwell nicht ahnen konnte. Allein in Deutschland sollen pro Monat 500 Millionen Verbindungen überwacht werden. Bis März 2014 sind immer mehr "Enthüllungen" über die Aktivitäten der NSA und anderer Dienste in die Öffentlichkeit gelangt, die in ihrer Summe selbst die Vorstellungen von Menschen mit Überwachungs-Phobien in den Schatten stellen. Da werden die Bundeskanzlerin und die chinesische Führung abgehört, die Telefongespräche ganzer Länder komplett aufgezeichnet, alle globalen Datenverkehre und Unternehmensnetze belauscht und, und, und.... Anfang 2015 wurde berichtet, der Bundesnachrichtendienst (BND) habe massive Ausspähungen in Deutschland und anderen Ländern durchgeführt und US-Diensten den Zugriff auf die Daten ermöglicht (der SPIEGEL meldete am 24.4.2015 eine "neue Spionageaffäre") - selbst der Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) formulierte angesichts der wahrscheinlichen Wirtschaftsspionage: Das "Verhältnis zwischen Staat und Industrie ist erheblich belastet".

Im Unterschied zu Orwells Szenario ermöglicht das Internet  aber nahezu jedem Menschen, in die Position eines Senders zu kommen und eine nahezu unbegrenzte Menge anderer Menschen zu erreichen. Solange das so ist, leben wir nicht in Zeiten der Gleichschaltung, sondern der kaum zu unterdrückenden Meinungsvielfalt. Und die Zeiten von faschistischer und stalinistischer Diktatur sind in vielen Ländern zum Glück vorbei, und Verhaftungen wegen falscher Gesinnung gibt es zumindest in Deutschland nicht.

Bei aller Kritik muss man darauf hinweisen, dass wir in Bezug auf Deutschland und die USA von Staaten reden, die sich global in einer Minderheiten-Position befinden - als Verteidiger der "Freiheit im Internet". Die Internationale Telekommunikations-Union (ITU) hat 2012 mit der Mehrheit der Staaten (89 zu 55) einen Vertrag beschlossen, der (mit massiver Unterstützung z. B. aus Russland, China und Saudi-Arabien) die weitgehende Regulierung und Überwachung des Internets vorsieht. Dieser Vertrag wird von vielen Staaten boykottiert.

Die Methoden der Überwachung und das unkontrollierte Agieren der amerikanischen Geheimdienste sind in den USA selbst nicht unumstritten. Die internationale Debatte hat wohl gerade erst begonnen. So hat z. B. die SPD-Fraktion im EU-Parlament einen ersten „Forderungskatalog zu PRISM“ formuliert, in dem auf weitere Aufklärung gedrungen wird. In Deutschland fordern Innenpolitiker schon eine deutsche Google-Alternative – das ist wohl leichter gesagt als getan. Aber immerhin: startpage.com verspricht eine Vermeidung oder Einschränkung des Sammelns von Nutzerdaten bei der Internet-Suche.

Angesichts der beschriebenen Lage ist die erneute Lektüre des Buches "Mikropolis" von Herbert Kubicek und Arno Rolf interessant: sie haben schon 1985 zu Beginn der Digitalisierung der Telefonnetze auf die mit der Vernetzung mögliche Totalüberwachung (S. 276) und die drohende Aushebelung des nationalen Datenschutzes (S. 291) hingewiesen.

Mehr zum Thema
Schriften Buchbesprechungen Literaturhinweise
  Filme Links