Foto Edgar Einemann Prof. Dr. Edgar Einemann

Bildungssystem, Bildungspolitik 

Das Bildungssystem wird mit Ansprüchen überfrachtet, wenn von ihm die Lösung des Problems der Ungleichheit in der Gesellschaft und zwischen den Menschen erwartet wird. Das Bildungssystem produziert diese Ungleichheiten nicht, es reproduziert sie – und kann am Ende wohl nur kleinere Beiträge für mehr Gleichheit leisten.
Menschen, die in das Bildungssystem hineinkommen, haben unterschiedliche Lernvoraussetzungen und sozial-ökonomische Lebensbedingungen.
Eine neue Studie zur “Literalität von Erwachsenen” (kling besser als Untersuchung zum Analphabetismus in Deutschland) kommt zu dem Ergebnis, dass 7,5 Millionen Erwachsene nicht ausreichend lesen und schreiben können – das sind fast 10% der Bürger! Für eine Stadt wie Bremen (seit über 50 Jahren SPD-regiert) bedeutet das: ca. 60.000 Menschen können nicht richtig lesen und schreiben (Weser-Kurier vom 10.12.2012, S. 7). Ist das ein Beleg für die schlechte Qualität des Bildungssystems? Gibt es individuelle Lernvoraussetzungen, mit denen auch das beste System der Welt kaum lösbare Probleme hat? Diskutiert wird jetzt (mal wieder?) über ein frühzeitiges Gegensteuern und akute Unterstützungen. Alphabetisierungskampagnen sind wohl nicht nur in weniger entwickelten Ländern nötig.
Es gibt immer wieder Studien und Statistiken, die einen engen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungskarriere beweisen. Das Aufbrechen dieses Zusammenhangs ist seit Ewigkeiten das erklärte politische Ziel der SPD. Die politische Verantwortung für das Bildungswesen liegt vor allem auf der Ebene der Länder – und hier trägt die SPD seit Jahrzehnten wohl zumindest 50% der Verantwortung. Es scheint so, dass die Resultate der politischen Gestaltung durch die SPD nach Jahrzehnten des Regierens und nach einer Vielzahl von Reformwellen immer noch unbefriedigend sind.
Irgendwann ist denn doch nötig, grundlegende Fragen zu stellen:


(1) Was hat sich denn in den letzten Jahrzehnten strukturell verändert? Redet man heute vielleicht über etwas anderes als vor 50 Jahren?
Die individuellen Ausgangsvoraussetzungen der zu Bildenden können sich verändert haben, weil sich z. B. die Zusammensetzung der Bevölkerung geändert hat (Sprachkompetenz und “Migrationshintergrund”). Oder die weniger gute Lernfähigkeit fällt in Schulen jenseits von Gymnasien und Oberschulen mehr auf, weil ein sehr viel höherer Prozentsatz als früher in “weiterführende” Bildungseinrichtungen aufgestiegen ist.  Wenn der Anteil der Hochschulabsolventen in einem Jahrgang von früher 10-15% auf 25-35% gesteigert wird und es keine Hauptschule mehr gibt: sind die Menschen lernfähiger geworden, ist das System besser geworden, sind das Signale für den Mangel? Wenn ein Drittel eines Jahrgangs an Hochschulen ist, dann sind diese Menschen vielleicht nicht (mehr) da, wo PISA testet? In Deutschland leben so viele Akademiker wie nie zuvor, und in 9 Bundesländern liegt der Akademiker-Anteil an den Beschäftigten bei über 10%.


(2) Ist die internationale Position Deutschlands wirklich schlecht und sind die Probleme wirklich mit mehr Geld und Personal zu lösen?
Immer, wenn es mal wieder Ergebnisse von Bildungs-Studien (wie PISA) gibt, die die Qualität des deutschen Bildungssystems im internationalen Mittelmaß (und China an der Spitze) verorten, vertraue ich lieber meinem Gefühl als den scheinbaren Fakten. Vor politischen Bewertungen bin ich  immer sehr für die Betrachtung der Fakten – aber nicht jede Statistik und nicht jedes Ranking liefern einen wirklichen Beitrag zur umfassenden Beschreibung von Lebensrealität. Ohne nähere Prüfung gehe ich davon aus, dass die Finanzausstattung des deutschen Bildungssystems und die Qualität des unterrichtenden Personals in den letzten 50 Jahren nicht schlechter geworden sind, sondern besser. Das kann dann global gesehen natürlich alles unterdurchschnittlich sein – bei der Betrachtung von Zuwachsraten muss aber immer der absolute Ausgangswert in die Bewertung einbezogen werden.


(3) In welchem Zeitraum sind Überwindungen von Ungleichheit denkbar, die ihre Ursache in der unterschiedlichen Lebenssituation und in unterschiedlichen Prioritätensetzungen von Eltern haben?
Eine Studie hat unter Nutzung des schönen Begriffs vom „transnationalen Humankapital“ herausgefunden, dass nur 2,5% der Schüler eines Jahrgangs (ca. 19.000) während der Schulzeit einen längeren Auslandsaufenthalt absolvieren und viele Eltern die Kosten von ca. 9.000 € nicht bezahlen wollen oder können. Da aber heute eine Vielzahl von Stellenanzeigen gerade für Jobs mit besseren (internationalen) Karrierechancen sehr gute Sprachkenntnisse fordern (möglichst Englisch auf Muttersprachen-Niveau), haben die Kinder ohne Auslandsaufenthalte während der Schulzeit oder des Studiums deutlich schlechtere Chancen. Wird es zur Sicherung der Chancengleichheit irgendwann das Angebot von staatlich finanzierten mindestens dreimonatigen Auslandsaufenthalten für jeden Schüler geben müssen?


Weiterer Reformbedarf
Trotz dieser Bemerkungen, die eine gefühlte Schieflage der Diskussion relativieren sollen, kann ein weiterer Bedarf an Reformen und auch höheren Mitteln nicht abgestritten werden. Die Folgerungen aus Studien wie TIMMS sind sicher richtig und vernünftig.

In der SPD kommt jetzt aus Hessen mit dem Regierungsprogramm zur Landtagswahl am 22.9.2013 eine beeindruckende Konkretisierung und Ergänzung bundespolitischer Leitvorstellungen der SPD zum Bildungssystem. Vorgelegt wird ein umfassendes Bildungskonzept von der Kinderkrippe bis zum Hochschulabschluss (inzwischen gibt es eine für das Internet optimierte Version). Hieran anknüpfend lohnt die weitere Diskussion.

Mehr zum Thema
Schriften Buchbesprechungen Literaturhinweise
  Filme Links